Spiegelwiderschein

Drei Jahre waren Maurice und Dirk Lehrlinge gewesen. Jeder von ihnen hatte versucht in sich zu schauen um zu ergründen, warum er sich der Freimaurerei widmete. Die Bruderschaft hatte sie geprüft und ihre Antworten und Arbeiten waren, nicht nur der eingehaltenen rituellen Formen wegen, der Beförderung würdig für befunden. Die vom Zeremonienmeister angeführten Wanderungen führen die beiden zu weiteren und unterschiedlichen Prüfungen.

 

Nachdem sie in den letzten drei Jahren bei keiner Arbeit gefehlt haben, glauben Sie heute, jeden Quadratmeter ihrer Loge zu kennen. Aber dieses Mal ist alles anders. Vom Westen, dort, wo sie bei den Aufsehern ihren Willen und Bereitschaft zur Aufnahme der Wanderungen erklären, bis in den Osten, wo sie der Meister vom Stuhl mit den notwendigen Werkzeugen ausstattet, ist alles wie sie es kennen. Mit einem Mal wird der Weg in ein gleißendes Licht gehüllt, das sie mit jedem Schritt den sie voranschreiten intensiver blendet. Ist das die Wirkungen der Pilze, die uns Br. Jens anbot und die wir dankend zu uns genommen haben?

 

Durch ihre schützend vor die Gesichter gehaltenen Händen erkennen sie eine Truhe, die, über den Rand hinaus angehäuft mit Goldbarren und Münzen, Ursache dieser glitzernden Helligkeit ist. „Bedient euch“ raunt leise eine schmeichelnde Stimme, und ergänzt: „damit habt ihr für den Rest eures Lebens ausgesorgt und seid so frei, wie ein Mensch frei sein kann“ Nach einer Atempause: „DAS ist das Ziel – Gold regiert die Welt“. Ihre Gesichter reflektieren ihre inneren Kämpfe mit dem Begehren frei und unabhängig materieller Sorgen zu sein – aber es ist beiden klar, dass dann ihr Weg hier enden würde. Nein, wir suchen weiter – es ist nur eine weitere Prüfung. Sie reißen sich von diesem Anblick los und folgen ihrem Führer bis sie schließlich wieder bei den Aufsehern ankommen, die sie freudig empfangen.

 

Die Aufseher loben sie angesichts ihrer Standhaftigkeit und reichen ihnen Stärkung für die nächsten Reisen. Die Fortsetzung ihrer Wanderung gleicht der ersten Reise, als sie im Osten neue, andere Werkzeuge erhalten, um weiteren Aufgaben entgegen zu gehen. Auch dieses Mal verändert sich ihr Weg. Er ist nun gesäumt von einer lärmenden und jubelnden Menschenmenge, die ihnen zujubelt, ihre Beharrlichkeit loben, sie mit Blumen überhäufen. Einige versuchen ihnen Orden und goldene, mit Edelsteinen besetzte Ketten umzuhängen, selbst eine Krone wird offeriert und die Menge skandiert ihre Namen als ihre künftigen Führer. Klar und deutlich vernehmen sie: „Ihr habt die Macht und die Herrlichkeit, ihr seid unsere Führer, euch gebührt jede Verehrung“.

 

Wie aus einem Mund antworten Dirk und Maurice: „Wir streben nicht nach Ehre und Macht, wir suchen nach persönlicher Vervollkommnung“ „Äußere Pracht und Eitelkeit würden die Arbeit an uns selbst behindern!“ Nein, wir suchen weiter – es ist nur eine weitere Prüfung. Es gelingt ihnen, sich durch die jubelnden Menschen hindurch zu zwängen, erreichen den Zeremonienmeister, der sie schließlich zurück zu den Aufsehern bringt. Abermals werden sie mit einem außerordentlich wohlschmeckenden Getränk – Wein? - gestärkt und aufgefordert ihre Wanderungen fortzusetzen.

 

Im Osten erhalten sie vom Meister der Loge neue, andere Werkzeuge, die ihnen auf der Wanderung dienlich sein sollen. Dieses Mal ist es kein Licht, kein Glanz und kein Jubel – ihre Route führt durch ein Flammenmeer. Starke Hände bieten ihnen prächtige Schwerter an. Die Schwerter tragen ihre Namen mit entsprechenden Symbolen der Macht, der Herrlichkeit und Urteilsfähigkeit.

 

Hinter den Flammen erblickten sie zahllose durch die Schwerter unterdrückte, eingesperrte aber auch getötete Menschen, sowie Gesetzbücher, deren Gültigkeit mit der Kraft der Schwerter durchgesetzt wird. Wir erkennen die Macht des Schwertes, aber wir werden uns durch diese Macht nicht fesseln lassen entgegnen sie dem Angebot zum Schwert zu greifen. Nein, wir suchen weiter – es ist nur eine weitere Prüfung. Unbeschadet erreichen sie die Aufseher, die sie abermals mit einer Stärkung für weitere Taten vorbereiten. Der Aufforderung zur Fortsetzung ihrer Wanderung folgen sie freudig und wieder erhalten sie im Osten neue, andere Werkzeuge. Ihr Weg verwandelt sich wie durch Zauberhand in einen durch eine bunte Wiese führenden Pfad.

 

Zahlreiche junge Mädchen und Frauen scheinen dort auf sie zu warten. Jede trägt eine tiefrote Rose in ihren Händen, die sie den beiden als Symbol ihres Vertrauens und ihrer Zuneigung überreichen wollen. Alle schmeicheln ihnen mit ihren Geesten, machen ihnen schöne Augen und wenn sie die perfekt geschwungenen Lippen öffnen, entströmen ihren Mündern zärtlich betörende Worte. Dirk bemerkt als Erster das Blut an ihren Händen und nun sieht auch Maurice wie sich manche Dornen der Rosen tief in das Fleisch bohren. Sie erkennen die Kehrseite des Wichtigsten in ihrem Leben – die Liebe – müssen sich aber jetzt entscheiden, ob sie ihren Gefühlen oder der Suche nach dem Licht der Erkenntnis folgen. Ohne Erkenntnis wird unsere Liebesfähigkeit nicht vollkommen sein. Nein, wir suchen weiter – es ist nur eine weitere Prüfung.

 

Sie schauen sich nicht noch einmal um, schreiten voran und erreichen schließlich zum vierten Mal die Aufseher, die sie nach einer weiteren Stärkung mit der Fortsetzung ihrer Wanderung beauftragen und losschicken. Zu ihrer Überraschung erhalten sie weder neue Werkzeuge, noch verwandelt sich ihr Weg. Der Zeremonienmeister führt sie ohne weitere Unterbrechung auf ihrem Weg geradewegs wieder zu den Aufsehern, die dem Logenmeister die Vollendung der letzten Reise der Lehrlinge melden. War auch diese Reise, ohne irgendwelche Werkzeuge, wieder eine Prüfung – und wo fand sie statt?

 

Es folgt der Hinweis, dass wir die letzte Reise, nur mit einem Schurz bekleidet antreten und die uns gestellten Aufgaben mit den uns bekannten Werkzeugen lösen können. War dies die letzte Reise? Ist die Prüfung beendet? Keineswegs – die schwerste Prüfung erfolgt jetzt für jeden. Getrennt tritt einer nach dem anderen vor eine Staffelei, auf der etwas durch ein schwarzes Tuch verborgen steht. Das Tuch gleitet herab und enthüllt einen mannshohen Spiegel. Dirk erkennt sich darin, doch was ist das? Das Spiegelbild wabert und schwankt, es verändert sich und Dirk sieht sich selbst als Kind, wie er sich mit seinen jüngeren Geschwistern prügelt.

 

Im Spiegel scheint ein Film abzulaufen, der die unterschiedlichen Lebensabschnitte von ihm zeigt. In der nächsten Sequenz erkennt er sich als Heranwachsenden, der mit seinem neuen Moped prahlt und damit seine Schulkameraden und vor allem die Mädchen seines Alters beeindrucken will. Dirk erlebt seine Abiturprüfung die er nur mit Hilfe von Spickzetteln besteht. Seine Ausbildungszeit huscht über den Spiegel und er erkennt wann und wo er seine Pflichten vernachlässigt hat. Längst vergessene Fehler, begangene Boshaftigkeiten und Unterlassungen werden ihm vor Augen geführt. Selbst die Ego-betonten Streitgespräche letzter Zeit in der Loge erlebt er noch einmal und manch abwertender Kommentar über Brüder und Schwestern klingen in seinen Ohren nach.

 

Eine Schrift erscheint: >>Erkenne Dich selbst – und werde der, der Du sein kannst<< und das herabgefallene Tuch schiebt sich langsam über die Spiegelfläche. Starke Hände fassen ihn bei den Schultern und drehen ihn weg vom Spiegel – er schaut schweißgebadet in Richtung Osten, während Maurice seine Position vor der Staffelei einnimmt. Was er dort sieht, hält ihn nicht an seinem Platz. Mit einem Schritt taucht er in den Spiegel ein. Er ist wieder das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene und erlebt alle Situationen, die er erfolgreich verdrängt hat, leibhaftig mit. Er ist mit dabei, kann aber nicht eingreifen, die Ereignisse werden ihm durch seine Anwesenheit in der vergangenen Zeit umso deutlicher und Tränen der Reue fließen über sein Gesicht. Schlagartig erkennt er, dass und wie er Menschen verletzt und geschadet hat.

 

In ihm brennt der Wunsch alles wieder gut zu machen, begangene Fehler nicht mehr zu wiederholen und künftig auf andere und sich selbst achtsam zu sein. Als ihn zwei Hände wieder in Richtung Osten drehen, erkennt er, dass er vor dem Spiegel steht. Schweißnass, mit heftig schlagenden Herzen und auf wackeligen Beinen hören sie die Worte ihres Meisters vom Stuhl, der den Mut sich dem höchsten Richter, ihrem Gewissen, zu stellen würdigt und sie auffordert die Regularien für die Beförderung zu erfüllen und sich zu ihm in den Osten zu begeben.

 

Die Beförderung ist vollendet, als den Lehrlingen Br. Maurice und Br. Dirk nacheinander das Logenschwert auf den Kopf, die linke und rechte Schulter mit dem Gesellenschlag geführt und der Meister diese Worte spricht: Zur Ehre des Großen Baumeisters aller Welten Nach den Regeln unserer Großloge Kraft meines Amtes als Meister vom Stuhl

Erkenne ich - das Schwert liegt auf dem Haupt des Kandidaten,

es folgen die Gesellenschläge auf das Schwert

Empfange ich - „ „ „

und bestätige ich dich - „ „ „

als Freimaurergesellen und Miterbauer dieser  MAGIC CARPET LODGE.

 

© Werner J. Kraftsik