Das freimaurerische Kanonenboot

Der Laderaum für das Heizmaterial ist heiß und stickig. Als Bruder Leif Ullrich und seine beiden mitreisenden Brüder der Loge „Magic Carpet“ den Stereoblick einstellen, können sie sich gegenseitig vor Kohlestaub kaum erkennen. Bengt Erichson und Klaus Meinhardt verstauen ohne zu zögern die weißen Handschuhe und die blitzsauberen Schurze in ihren mitgeführten Umhängetaschen und schmieren sich Kohlestaub in ihre noch leicht schielenden Gesichter. So unterscheiden sie sich kaum noch von der Besatzung des freimaurerischen Kanonenbootes  „USS Baron deKalb“ und reihen sich in die Kolonne der ebenfalls, wenn auch auf völlig anderem Weg eingetroffenen Brüder.

 

Sie melden sich beim Sekretär des Kanonenbootes für den freiwilligen Kriegseinsatz auf dem Mississipi.

Allen ist bekannt, dass der Kapitän des mit schweren Stahlplatten armierten Mississipi-Steamers, der deutschstämmige Baron DeKalb, für seine Besatzung ausschließlich Freimaurer rekrutiert. Er begrüßt jeden einzelnen Neuankömmling mit maurerischem Handschlag und spricht die drei mit deutschem Akzent freundlich an:

„Ah, ich sehe schon, Ihr habt Eure Aufgabe im Heizungsraum bereits gefunden. Achtet bitte darauf, dass wir kaum noch über Kohle verfügen und rechtzeitig in Nebenarmen ankern müssen, um uns mit Brennholz zu versorgen. Es wäre fatal, wenn uns bei einem taktischen Rückzug das Heizmaterial ausgehen würde.“

 

Den Bruder Erichson weist er in die andere Richtung: „Die Munition darf auch nicht annähernd in die Nähe des Heizkessels geraten. Darauf ist ganz besonders beim hektischen Nachladen während eines Gefechtes zu achten, mein Bruder“.

Ein amerikanischer Bruder, der seine freimaurerische Kleidung gegen einen durch langen Gebrauch bereits tarnfleckigen Overall eingetauscht hat, weist die Neuankömmlinge auf wichtige Eigenheiten des Raddampfers hin:

„Durch die Stahlarmierung erhöhte sich das Gewicht unseres Steamers ganz erheblich und wir liegen nun fast zwei Fuß tiefer im Wasser. Die über dem alten Spiegel liegenden Holzplanken mussten wir mit Hanfseilen und Teer nachkalfatern, damit kein Wasser eindringen kann.

Genaugenommen ist diese Höhe nun unser Lindenblatt im Drachenblut. Und das wissen die Konföderierten ganz genau.“

 

„Wieso denn? Haben die Spione in Euren Kolonnen?“ möchte Bruder Klaus Meinhardt wissen.

„Das nicht, aber sie verfügen selbst über ein ganz ähnliches Kanonenboot. Unsere gute alte „Merrimac“, die die Konföderierten in Virginia eroberten, ist fast baugleich. Wir hätten sie zerstören sollen, bevor diese profanen Cowards sie kaperten. Sie haben sie lediglich in „CSS Virginia“ umgetauft und dann ohne Zeitverlust gegen uns eingesetzt.“

 

„Euer Kapitän oder Stuhlmeister …“ Leif Ullrich ist sichtlich unsicher, wie er den Baron deKalb anreden sollte. „… stammt er tatsächlich aus Erlangen in Deutschland?“

„Durchaus. Und wie ich an Eurem Akzent höre, stammt Ihr ebenfalls aus seiner Heimat?

„Na, nicht ganz. Hamburg liegt fast an der dänischen Grenze“. Darüber können aber lediglich die drei neuen lachen.

 

Der „einführende Bruder“, den seine Kameraden „Bob Skeleton“ nennen, weil seine dürre Erscheinung die Probleme der Bordküche am deutlichsten veranschaulicht, ergänzt seine Antwort noch kurz: „Sein Geburtsort heißt soviel ich weiß Hüttendorf. Er trat als einfacher Söldner in unseren Revolutionskrieg ein und bekleidet heute den Rang eines Generals“.

Auf dem Oberdeck fällt den drei Hamburger Brüdern das große Zirkel -und Winkel-Symbol zwischen den beiden riesigen Schornsteinen auf.

 

„Wir sind alle der Überzeugung, dass es eine gute Entscheidung unseres Kapitäns war, eine Mannschaft, die ausschließlich aus Brüdern besteht, zu rekrutieren. Eine eindeutige Hierarchie, wie wir sie aus unseren Tempelarbeiten kennen, ersetzt hier die sonst mühsam und verwirrend anzupassende Befehlsstruktur. Der Schiffskommandant hat naheliegenderweise den Rang eines Stuhlmeisters, der Bootsmaat ist der erste Aufseher und der jeweils Wachhabende wechselt schichtweise.“ Ergänzend fügt Bruder Bob noch hinzu: „Und natürlich weiß jeder, dass er sich auf einen Bruder besser verlassen kann, als auf jeden anderen Soldaten an seiner Seite.“

 

Dann begeben sich alle in den Schiffsrumpf in dem zwischen schweren Kanonen vor den Schießscharten und den Munitionskisten in der Mitte des Laderaumes eine Arbeitstafel ausgebreitet liegt. Deutlich zeichnet sich darauf die Herkunft des Stuhlmeisters ab, denn amerikanische Trestleboards sehen gänzlich anders aus.

Bereits in dieser schlüssigen Metapher erkennt Bruder Leif Ullrich, welche kosmopolitische Bedeutung hier jeder dieser amerikanischen Revolution beimisst.

Auf den beiden dicken Säulen neben dem aus Munitionskisten aufgestapelten „Altar“ mit den in Teerbuchstaben grob aufgepinselten Buchstaben „J“ und „B“ erkennen die Hamburger Brüder die beiden großen Schornsteine des Raddampfers wieder.

 

Als der kleine Rundgang auf der improvisierten Kommandobrücke des Raddampfers endet, entschlüpft es Bruder Erichson spontan angesichts der polierten Messing-Armaturen und des kunstvoll geschnitzten Ruders; „Steampunk pur!“

Dem fragenden Blick Bruder Skelletons weicht er vorsorglich aus. Auskünfte über ihre Herkunft und die Zeitreise würden hier vermutlich niemanden weiterbringen und ihre Zurechnungsfähigkeit nachhaltig infrage stellen. Daran, dass diese wunderbar nostalgische Ausstattung dem Zeitgeschmack und dem technischen Verständnis des Jahres 1863 entspricht und kaum seiner eigenen Vorliebe für nostalgisierende Steampunk-Verklärungen, hat  er einen kurzen Augenblick außer acht gelassen. Auch dürfte es diesen Begriff kaum gegeben haben.  Eine Verunsicherung dieser Art dürfte wohl an jeder Front der Welt reflexartig den Verdacht einer feindlichen Unterwanderung nach sich ziehen.

 

Drei harte Schläge, vermutlich an einen der Schornsteine, dröhnen durch das Kanonenboot. Vor jedem Einsatz nimmt Kapitän Baron DeKalb den symbolischen Hammer des Stuhlmeisters in die Hand, um seine Besatzung zu brüderlicher Besinnung aufzurufen.

 

Auf der Treppe, die in den Laderaum hinunter führt, dreht sich Klaus Meinhardt zu seinen Mitreisenden um und flüstert konspirativ: „Vergesst nicht, dass die Wirkung des Mutterkorns nach neun Stunden nachlässt und wir ohne die Bruderkette zu bilden, nicht zur Magic Carpet-Loge zurückkehren können. Übernehmt also keine Funktion, die nicht auch ein anderes Besatzungsmitglied ausführen könnte. Wir sollten uns permanent in Sichtkontakt aufhalten, also keine einsamen Landgänge und so. Okay?“.

Als alle Brüder auf improvisierten Sitzgelegenheiten, Munitionskisten, Taurollen oder Brennholzstapeln Platz genommen haben, verstummt das Gemurmel und man vernimmt das verhaltene Gestampfe der bereits vorgeheizten Maschine. Es ist laut genug, um den Stuhlmeister deutlich lauter sprechen lassen zu müssen, er muss geradezu rufen, um auch noch ganz hinten im Laderaum Gehör zu finden.

 

Abermals ertönt ein lauter Schlag, diesmal mit einem groben Hammer auf den Munitionskistenaltar geschlagen: „In Ordnung meine Brüder“.

Alle stehen auf, richten noch ein wenig die verschmutzte Bekleidung – in  den meisten Fällen eine vergebliche Mühe.

Als sich dann die Teilnehmer dieser für ein Frontgeschehen merkwürdig anachronistisch anmutenden Zeremonie mit verschränkten Armen die Hände reichen, um die auf allen Kontinenten zelebrierte Bruderkette zu bilden, fühlt es sich einen Moment an, als wären alle gemeinsam der Welt entrückt.

 

Der Stuhlmeister Baron DeKalb beginnt ein agnostisch anmutendes Standardgebet, zunächst in englischer Sprache, dann in deutscher. Deutlich hört man noch den muttersprachlichen Dialekt heraus. Auch das französische Kurzgebet hätte er sprechen können, denn seine Familie hatte viele Jahre in Frankreich verbracht, bevor sie nach Amerika auswanderte. Seine beiden Söhne schlugen dort sogar eine militärische Laufbahn ein. Er hatte es zur Bedingung gemacht, dass sie auf dem Kontinent blieben, bis die Konflikte der amerikanischen Revolution ein Ende fänden. Unvorstellbar, wenn sich die Familienmitglieder an einer Front gegenüber stehen würden. Und leider hat es solche Fälle bereits gegeben.

 

Mit einem Kopfnicken weist er andere Sprecher an, die das gleiche Gebet in ihrer jeweiligen Muttersprache aufsagen. Einen polnischen Dialekt hört Erichson heraus, einen holländischen und einen russischen. Zwei weitere kann er nicht einordnen, ist aber froh, als ein gemeinsames „Amen“ diesen Teil der Zeremonie beendet.

In dieser Andacht wird jedem der Brüder unweigerlich bewusst, weshalb man sich auf neutrale Gottes-Definitionen wie „Architekt“ oder „Baumeister aller Welten“ fast zwangsläufig einigte. Wie sonst könnte man den unterschiedlichsten Abstammungen entsprechen?

 

Als sich die Kolonnen wieder gesetzt haben, berichtet Dekalb von den wenigen verfügbaren Informationen für den bevorstehenden Einsatz.

„Wir befinden uns hier in einem Seitenarm des Mississippi, der auf dem Landwege kaum erreichbar ist. Reitende Kuriere scheiden fast völlig aus und zu Fuß sind die Strecken absurd unwegsam. Keine Nachricht würde unsere Verbündeten so rechtzeitig erreichen, dass sie noch irgendeine strategische Bedeutung hätte. Rauchzeichen erscheinen uns aus verschiedenen Gründen absurd und auf Brieftauben haben sich die Scharfschützen der Konföderierten längst erfolgreich eingeschossen. Da Bleibt dann nicht mehr viel und es ist fast ein kleines Wunder, dass uns die Nachricht über einen bevorstehenden Generalangriff im Yazoo River in der Nähe von Yazoo City durch unsere gesamte Mississippi-Flotte über ein Eingeborenen-Kanu mit nur dreitätiger Verzögerung erreichte.“

Bengt Erichson muss an die strategischen Vorteile einer satellitengestützen Kriegslogistik denken, selbst sein Handy könnte mit Google-Earth das Kriegsgeschehen entscheidend beeinflussen. Aber was nützt ein Smartphone 1863 in einer Welt ohne Internet? Die stummen Blicke seiner Mitreisenden bedeuten ihm, dass ihnen ganz ähnliche Gedanken durch die Köpfe gehen.

 

„Wir werden Seitenarme benutzen müssen, um unser Ziel zu erreichen, deren Wasserstände wir nicht kennen. Einerseits, weil sich diese ständig verändern und zum anderen auch, weil sie noch nie mit Schiffen unserer Größenordnung befahren wurde. Zudem sind sie oft so schmal, dass sie unsere Gegner geradezu dazu einladen, uns zu entern. Wir werden also die Eisenplatten, die eigentlich für Reparaturzwecke gedacht sind, an der Reeling befestigen, um unseren eigenen Schützen eine bestmögliche Armierung zu bieten. Zwei unserer leichteren Reserve-Kanonen werden auf dem Oberdeck montiert.“

 

Er schließt seine Melange aus freimaurerischem Ritual und militärischer Strategie die den Charakter aller Feldlogen zu allen Zeiten geprägt hat, indem er noch ein letztes Mal die Bruderkette bilden lässt, mit den Worten:

„Zieht nun hinaus meine Brüder, seid eingedenk Eurer Familien und Brüder, wehret dem Unrecht wo es sich zeigt, seid barmherzig und gnädig wo es nicht zu Eurem eigenen Schaden ist“.

 

Das Geräusch der Dampfmaschine wird jetzt so laut, dass man sich nur noch durch laute Zurufe und Handzeichen verständigen kann. Schwarzer Rauch steigt aus dem mächtigen Schornsteinen, die eben noch als Säulen im Laderaum-Tempel dienten. Das mächtige Schaufelrad beginnt, sich mittschiffs im Heckbereich zu drehen. Alle Brüder der Besatzung nehmen ihre Posten ein und laden Gewehre und Kanonen.

 

Fortsetzung folgt ... ... ...


On July 13, 1863 Baron De Kalb was sunk by a mine (then called a "torpedo") in the Yazoo River, one mile below Yazoo City, Mississippi.

Wikipedia Baron De Kalb

Wikipedia Mississippi River Squadron