Norddeutscher Surrealismus

Die Placenta meiner Phantasien

Ich entstamme einer norddeutschen Fischerfamilie. Keiner meiner Vorfahren war ein Künstler, nicht einmal im Ansatz. Aber sie schleppten eine uralte Tradition in ihrem Fahrwasser, das weithin bekannte "Seemannsgarn" mit seinen Übertreibungen, Erfindungen und Lügen mit denen Hochseekatastrophen und nicht erklärbare Phänomene von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Unser "Stoff, aus dem die Träume sind", wird allemal aus Seemannsgarn geflochten und gewebt. Unser "Spinnrad", also der Ursprung aller "Wattspinner", zu denen ich mich zähle, entspringt dieser Schatztruhe. Eine Seemannskiste voller Lügen und kaum erklärbarer Phänomene. Nichts ist davon evidenzbasiert, nichts überprüfbar. Und es ist die Placenta großer Mythen. Der "Fliegende Holländer", Moby Dick", "Das Totenschiff" und nicht zuletzt der "Schimmelreiter", sie alle wurden unter Schmerzen geboren und sehr häufig kamen die Künstler erst als zweite Wahl an Bord. Immer waren es zu allererst die Fahrensleute, die Fischer, die Cap Horn-Umsegler, die Erfinder überweltlicher Phänomene die Ihnen ihre Vorlagen lieferten. Hemmingway schöpfte aus diesem Fundus, Melville, Arno Schmidt und sogar Storm. Ihr Raubbau am Unbelegbaren, am Unterbewusstsein das durch Rum und Scorbut genährt wurde, durch kielgeholte Wasserleichen und gestrandete - sie schufen eine Literatur, an deren Zitzen die Welt begierig nuckelte. Ich bin meinen Vorfahren dankbar dafür, dass sie mich in eine Welt ohne Horizonte stieß. Ich bin ihnen dankbar, dass sie mich erhaben machte, über Kritiker und Zögerer. Sie stärkten mich und machten mich erhaben über die Armada der Phantasielosen, der die bornierten Kollegen mit den angeknabberten Bleistiftresten dazu anregten, dünnblütige Schande über mich zu ergießen. Mein Nährboden stinkt nach der Jauche abgestandener Uferzonen, in denen die Wasserleichen Totentänze veranstalten und die Meeresgötter den Takt dazu mit ihren zerschundenen Flossen klatschen.

„Dat will mi glieks neen Minschen glöven: De olle Kutter ‚Karin‘ vun mien Grootonkel Hinnerk liggt op eenmal blangs boven op’n Diek – keenen weet, wo he dor hen kunn. De Lüüd snackt, dat he von de Nordsee-Uterirdischen hoochhböört wöör.“

Manifest vun een düchtigen Wattspinner

Ick kumm ut ’n ole Fischerfamiln hier vun de Küst. Keen vun mien Vörfohren weer en Künstler – nich mol vun barch wech.  Owers se hebbt wat mitbröcht in ehrn Fohrwoter: dat ole, ehrwürdige Seimannsgorn.

Dat weer ehr Spinnrad, ehr stellnett, ehrn Reusn – fulll mit driest Lögen, glitschige Överdrievn, mit Geschichtn, de keen Minsch bewiesen kann. Vun düstern Ünnergang, von Geisterschippen un Seeungehüern. Vuon Sooken, de man nich begriepn kann, wenn man düt Water nich mit Modders Merlk opsoogn hett.

Dat weer de Stoff, ut denn de Drööms sünd.

Dat weer ehr Garn, ehr Klüver, ehr Logbuch.

Un ick? Ick heff dat all mit in mien Blot mitkrregen. Ick heff dat förmlich in de Plünn, wenn ick spinn, mool odder leigen dei, watt sick de Balken beugt.

Ick segg Di: de Künstler keemen erst, as de Geschichten al lang vörhannen weern. De Fischerslüüd, de Seelüüd, de Cap-Horn-Umseglers, de hebbt dat all toeerst dreeven. De hebbt ehr Goorn ut Nevel, Rum un Kielholen spunnen.

Melville, Storm, Arno Schmidt? – De hebbt sik blots bedeent. An dat wat uns Ünnerbewussstsein so utspuckt, wenn de Gischt de Gedanken weeckspölt.

Un ick bün ehr dorvör dankbor. Se hebbt mi in en Welt stütt, de keen Grenzen kennt. Se hebbt mi wies mookt för de Kritik von all de Miesmookers un Bleckenpusters.

Ick stoh op en Grund, de stink no de Jauche von de Spöölmarken an´n Diek, wo de Waterliicken danzt, un de Wotergödder klatscht mit ehr zerfreeten Flossen den Takt dortau.

Ick bün een Wattspinner. Een Lögensänger. En Dörchkieker un Afterschuuler.

Un mien Goorn, dat hölt – uk bi Storm över 10.

„Jo, dor sünd se denn up’t Mal mit alle Tentakeln anrückt, de Sipp von sien Bifang, un hebbt mit veel Radau de Rückgoov vun de sündhaft vermissten Frünnen in’t Spintüüg forderd!“

De Hinnerk Rusch kunn snacken, dat de Fisch dor nich mehr gegenanswimmen mooch! He harr so’n lebhaftn Kopp, un he schall ok de recht grode snutstark wesen sien, wenn’s dor bi Delf Jans een Eiergrog för jümmer niege Geschichtn geev.“

„As lütt Neefelder Jung heff ick dat allens mit grote Ogen anhört, wenn Opa Hinnerk vun sien Begegen mit de Buttjepuckel vertellt hett.“

(„Buttjepuckel“ ist ein liebevoller niederdeutscher Ausdruck für Schweinswale)

„De Geschichten mit de Seeelefanten flüstert` he mi sacht in’t Ohr, so as wenn he dat keeneen mitkriegen lotten wull. Ick meen, dor weer Schmuggel in’t Spiel. Doch dat hett mien Grootonkel för mi nich een Gramm ünnern Stuur brocht.“

„Is dat, wat ick vertell, wirklich passeert – oder blots dat, wat mien Kopp doruut mookt hett? Kann dat ween, dat mien norddüütsche Surrealismus ut verklatterten Stückn bestoohn deit? Oder is dat de Bildversioon vun dat olle Goorn, ut dat uns Grootvooders de Drööm spunnen hebbt?“

„Grootopa Hinnerk Rusch weer’n Mann mit eegensinnigen Fangmetauden. Dat, wat he in’t Netz kreegen hett, hett bi uns in de Familie Sporen achterlooten – mien Kreatiwität is wohl een dorvun.“

„De Weetenschaft, de se ‚Bionik‘ nöömt, kiek de Natur wat aff. Mantas, Fladdermüüs, Roboterhundn – allens nix nieges. Hinnerk Rusch harr dat al lang in’n Kopp: een Kraftwark, dat mit Ebbe un Flaut löppt. Sien Kutter foohr ganz ohne Diesel – as vun sülvst. Se nöömt` em den ‚Nikola Tesla vun de Elbmööt‘. Un wenn he nich grad op’n Diek landen dee, denn harr he  versöcht, mit sien Kudder to fleigen.“

Hinnerk Rusch haar sick seekers `n dutten dorbie dacht, as he sien Kudder "Karin" as Krüzfohrtschipp anmeldt haar. He weer nich sünnerlich relidtschiös, overs dat mookt em nix, dat weern de annern mit eern Kudder Aida je ukk nie. Dorvöör haar he sien Karin overs schmuck wat herricht, dat mookt dutten wett, meent he.