Wenn das Überleben zur Bürde wird

Die moderne Onkologie hat Erstaunliches erreicht. Nie zuvor waren die Überlebenschancen nach einer Krebserkrankung so hoch wie heute. Doch während die Medizin die biologische Seite des Überlebens beherrscht, bleibt die seelische Dimension oft ein Schattenriss – schwer messbar, schwer greifbar, und doch lebensentscheidend.

In Deutschland leben derzeit über vier Millionen Menschen mit oder nach einer Krebserkrankung. Etwa jede*r Fünfte leidet unter klinisch relevanten depressiven Symptomen.¹ Diese Zahlen sind nur die Spitze eines Eisbergs, der tief in den Alltag hineinragt: Isolation, Sprachlosigkeit, Scham und die Angst vor dem sozialen Ausschluss.

Gerade dort, wo die Krankheit körperlich sichtbar wird – im Verlust von Zunge, Kehlkopf oder Speiseröhre –, verschiebt sich der Mittelpunkt des Lebens in eine unsichtbare Randzone. Wer nicht mehr normal essen, sprechen oder genießen kann, verliert oft mehr als Funktion: er verliert Zugehörigkeit. Die Mahlzeit, die einst gemeinschaftlich und sinnlich war, wird zur Hürde. Das Restaurant, der Freundeskreis, das Familienfest – all das kann zum Schauplatz stiller Demütigungen werden.

Depression ist hier nicht nur Folge, sondern Verstärker eines langsamen Rückzugs. Studien zeigen, dass depressive Symptome die Gesamtmortalität nach einer Krebserkrankung um bis zu 25 % erhöhen können.² Die Ursachen sind komplex: verringerte Therapieadhärenz, sozialer Rückzug, mangelnde Bewegung, Ernährungsdefizite – aber auch schlicht der Verlust des Willens, weiterzuleben.

Hinzu kommt die Sprachlosigkeit der Umgebung. Angehörige, Freunde, sogar Pflegende vermeiden das Thema, aus Hilflosigkeit oder Unwissen. Dabei beginnt Heilung genau dort, wo Sprache und Teilhabe wieder möglich werden.

Das Projekt Kulinarische Inklusion setzt hier an. Es betrachtet Essen nicht als rein physiologischen Vorgang, sondern als soziale und psychologische Brücke. Es verbindet Betroffene, Köchinnen und Köche, Kliniken und Hotels in einer gemeinsamen Haltung: Essen ist Würde. Wer wieder angstfrei genießen darf, gewinnt nicht nur Lebensqualität, sondern oft Lebenszeit.

Die Depression nach Krebs ist kein Randthema. Sie ist ein unsichtbarer Gegner, der nach der erfolgreichen Therapie bleibt – leise, aber beharrlich. Ihn ernst zu nehmen heißt, das Überleben wirklich ganz zu denken: körperlich, seelisch und gesellschaftlich.


 

¹ Deutsche Krebsgesellschaft / DKKR, Schätzwerte 2023; Prävalenzdepression bei Krebspatient:innen 14–21 %.
² Satin et al., Depression and cancer mortality: a meta-analysis, Cancer 115 (2009): 5349–5361.