Türsteher in der Einflugschneise unseres Körpers

Die Fischgräte mag wohl das bekannteste Beispiel sein. Schon kleinste Fremdkörper werden durch die hochsensible Oberfläche der Zunge sofort bemerkt. Über die Nervenbahnen, die Zunge und Rachen versorgen, meldet sie diese Irritation unmittelbar an unser Gehirn weiter. So fungiert die Zunge als eine Art biologischer „Türsteher“ in der Einflugschneise unseres Körpers – dort, wo Nahrung und Luft den Weg nach innen nehmen.

Aber was geschieht, wenn wir nicht sofort reagieren – etwa, weil wir durch ein anregendes Tischgespräch abgelenkt sind? Dann verstärkt unser Gehirn die Warnsignale, vergrößert sie gewissermaßen, und eine kleine Irritation (wie ein spitzes Grätenfragment) kann sich in der Wahrnehmung rasch zu einer massiven Bedrohung auswachsen. Mediziner sprechen in solchen Fällen von einer Überempfindlichkeit der Schleimhaut. Aus Sandkörnern werden so kleine Felsen – nicht optisch, sondern in unserer Wahrnehmung von Gefahr.

Die Lebensmittelindustrie kennt diese Problematik gut. Aus Gründen der Sicherheit und um das Risiko von Verletzungen oder Verschlucken zu minimieren, haben grätenfreie Produkte längst die traditionellen Gerichte verdrängt. So hat das praktisch risikofreie Fischstäbchen den Rang der klassischen „Hamburger Scholle“ übernommen – eine stille Folge unseres Schutzinstinktes und der Türsteherfunktion der Zunge.

Ich kann mich gut daran erinnern, dass dieses empfindliche Warnsystem unseres Körpers durch Chemotherapie und Bestrahlung ganz erheblich durcheinandergebracht wurde. Viele Medikamente führen zu einer massiven Geschmacksstörung, und die Schleimhaut des Mundes und Rachens leidet unter Entzündungen und Trockenheit. Malzbier schmeckte plötzlich wie rostiges Wasser, Sülze wie Essig und Säure, und Kirschen ließen mich vor Schmerzen aufschreien. Eine Krebstherapie kann also tiefgreifende Veränderungen bei der Nahrungsaufnahme hervorrufen.

Aber was geschieht, wenn man gar keine Zunge mehr hat – nach einer teilweisen oder vollständigen Entfernung? Dann übernehmen Geruchs- und Sehsinn eine deutlich größere Rolle im Warnsystem, das uns vor Gefahren beim Essen schützt.

Das führte – und führt – bei mir so weit, dass ich ein krustiges Brot gar nicht mehr in den Mund einführen muss, um einen Alarm auszulösen. Schon die Annäherung löst eine Kette von Abwehrreaktionen aus: Mein Körper beginnt zu husten und sich zu wehren, sobald ich es in der Hand halte und meinem Mund nähere. Hier zeigt sich ein klassisches Beispiel von erlernter Konditionierung: Mein Körper hat sich selbst umprogrammiert – lernfähig und adaptiv, beinahe wie die heutige KI.

Nun ist nicht jeder Krebsbetroffene medizinisch so versiert, dass er oder sie diese Zusammenhänge kennen würde – und kaum ein Hotelkoch hat in seiner Berufsausbildung gelernt, welche besonderen Anforderungen es für Betroffene nach einer Krebstherapie gibt. Auch ich musste mir dieses Grundverständnis als Patient mühsam erarbeiten.

Das ändert aber wenig daran, dass die Folgen einer solchen Behandlung das Leben massiv beeinflussen. Das gilt für Menschen ohne Kehlkopf ebenso wie für jene, denen Teile von Speiseröhre oder Magen fehlen. Überall muss der Körper sich auf Veränderungen einstellen – sei es durch eine veränderte Art des Schluckens, durch andere Transportwege der Nahrung oder durch das Fehlen wichtiger Verdauungsfunktionen.

Dieses Buch soll auch dazu beitragen, aufzuzeigen, wo Betroffene mit solchen gravierenden Einschränkungen Rat und Hilfestellung erwarten können. Das Grundverständnis für eine Schonkost ist in unseren Kliniken meist auf die erste Akutphase begrenzt. Eine kontinuierliche Beratung oder Begleitung im Alltag fehlt vielerorts.

Es ist also in fast jedem Überlebensfall der Patient selbst gefragt, Wege zu finden, Wissen zu sammeln und Strategien zu entwickeln, um trotz aller Einschränkungen wieder am sozialen und kulinarischen Leben teilzuhaben.