Vorwort – Kulinarische Inklusion

 


Das Thema klingt ungewohnt und fast so, als würde es einen selbst überhaupt nichts angehen. Mein Bemühen gilt also, Sie eines Besseren zu belehren und Licht in eine der am stärksten vernachlässigten Grauzonen deutschen Krebsleidens zu bringen: den fortgesetzten Überlebenskampf derer, die der Krebs nicht zu Boden ringen konnte.

Vor 25 Jahren entfernte man mir ein daumengroßes Stück Fleisch aus dem Zungengrund, bohrte Schläuche und Elektroden durch Hals und Zunge und bestrahlte meinen Kopf dutzende Male von innen heraus – massiv, radioaktiv. In dieser Zeit lernte ich hervorragende Ärztinnen und Ärzte kennen. Doch während Morphine meine Sinne benebelten und eine Chemowelle mein Immunsystem lahmlegte, reifte in einer langen Phase der Besinnung ein Plan: Dankbarkeit für mein überlebtes Leben, aber auch das Bewusstsein, dass es Mankos im System gibt, die benannt und behoben werden müssen.

Ich erinnere mich an den Mitpatienten, dem man die komplette Zunge entfernt hatte und dessen Mundhöhle sich alljährlich mit Mundgewebe wie mit einem Blumenkohl füllte. An jene, die eine Sprachkanüle auf den Daumen drücken mussten, um blecherne Laute hervorzubringen wie außerirdische Aliens. Und an all die Menschen, deren Kehlkopf sich wie meiner unaufhaltsam zu verschließen begann, weil Narbenzüge den Rachen deformierten. In ihnen allen begann die tägliche Nahrung eine unberechenbare, gefährliche Wanderung.

Unser Hals, der Engpass zwischen Kopf und Körper, ist seit Jahrhunderten die bevorzugte Schwachstelle der Henker. Galgen, Schafott, Garotte, Kehlschnitt – hier lag man immer richtig. Doch auch im friedlichen Alltag bleibt der Hals das empfindlichste Nadelöhr: Hier muss alles hindurch, was uns am Leben erhält – Luft wie Nahrung. Weigert sich der Körper zu schlucken, setzt sich die Drangsal der Krebstherapie stillschweigend fort. Oft kaum bemerkt von Ärzten, Partnern, Freunden. Dysphagie macht Menschen zu Außenseitern, zu Parias.

Man nennt diese Spätfolgen „Dysphagie“ – Schluckstörungen, die mit hohem Risiko und enormem Leidensdruck einhergehen. Die Folgen: verlorene Gastronomiekultur, keine Tafelgespräche, keine Toasts, kein gemeinsames Anstoßen mehr. Stattdessen Isolation, Depression, Suizidgefahr. Und kaum jemand bemerkt es.

Mein Credo lautete damals martialisch: „Wenn ich wiederkommen sollte, weil sich ein neuer Tumor durch meine Wachsamkeit schleicht, dann kennt ihr mich!“ Und wie erkennt man jemanden am sichersten wieder? Wenn er Institutionen viel Geld eingebracht hat. Also suchte ich einen Weg, mit Charity-Aktionen Aufmerksamkeit und Mittel zu generieren – und gründete mit Freunden die „Krebsfront“.

Die Wattolümpiade und die Konzertreihe Wattstock erbrachten über 700.000 Euro. Wir setzten die Mittel direkt für Betroffene ein: Venenfinder, Sono-Geräte, Rollstühle für Adipöse. Wir gründeten ein Krebsberatungszentrum Westküste und organisierten Krebs-Infotage mit Fachreferenten. Das Motto „Wir werfen uns in den Dreck für den guten Zweck“ wurde unser Erkennungszeichen.

Währenddessen verschlechterte sich mein eigener Zustand. Der Kehlkopf begann sich zu verhalten wie ein deformierter Gullideckel. Immer häufiger verschluckte ich mich, immer öfter erlebte ich Erstickungsangst. Der endgültige Bruch kam in einem Hamburger Restaurant, als ich mein Essen auf den Teller erbrechen musste, um nicht zu ersticken. Von da an verabschiedete ich mich still von der gewohnten Gastronomie.

In der HNO des UKSH hörte ich, was ich befürchtet hatte: „Diese Spätfolgen sind progressiv, wir kennen keine Mittel, sie zu beseitigen.“ Ich fühlte mich entmündigt, aber ich verstand auch: Ohne die damalige OP hätte ich nur drei Monate gehabt. Mit ihr bekam ich 25 Jahre geschenkt. Jahre, in denen ich malen, wirken, helfen konnte.

Nach dem Ende der Wattolümpiade verstetigten wir unsere Arbeit im „Netzwerk Patientenkompetenz e.V.“. Die Westküstenkliniken stiegen ein, die Wacken Foundation kam hinzu. Damit wurde klar: Prävention muss ebenso Ziel sein wie Nachsorge. Unser neuer Leitspruch lautete: „Der beste Krebs ist der, den Du gar nicht erst bekommst.“

Besonders bewegend war ein Treffen mit Betroffenen des Selbsthilfenetzwerks M.U.N.D.: Menschen ohne Gaumenplatte, mit fehlendem Unterkiefer oder Kehlkopf. Ich begriff: Über 10 % der Bevölkerung leiden an Schluckbeschwerden. Das ist keine Randgruppe – das ist eine relevante Größe. Und die Gastronomie hat diese Klientel längst verloren, ohne es zu merken.

Die Erkenntnis war eindeutig: Institutionen und Kliniken reagieren träge, Nachsorge steht selten oben auf der Agenda. Also bleibt die Frage: Was können wir selbst tun?

Meine Antwort: Ein Kochbuch, das nicht nur Rezepte bietet, sondern Inklusion schafft. Phase 1: Mit Köchen Rezepte entwickeln, die Dysphagie-Betroffene integrieren. Phase 2: Diese Rezepte in einem Kochbuch sammeln, als Ratgeber und Inspiration. Phase 3: Gastronomiebetriebe gewinnen, die mitmachen, und Betroffenen echte Teilhabe ermöglichen.

Allein könnte ich das nicht stemmen. Deshalb habe ich im September 2025 eine konstituierende Versammlung einberufen: mit Vertretern von DEHOGA, Hoteliers, Ärzten und der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft. Gemeinsam beschlossen wir: Kulinarische Inklusion wird Realität.

Ich bin ein alternder Künstler. Aber dass ich so alt werden durfte, verdanke ich der Kunst der Ärzte. Daraus erwächst eine Verpflichtung. Dieses Kochbuch ist Teil meiner Antwort: ein Beitrag, der Betroffenen ihre Würde zurückgeben, Gastronomen neue Perspektiven eröffnen und unsere Gesellschaft menschlicher machen soll.

Die Zusage des Food Editors Club, Verlagsinteresse und Stiftungsanfragen geben Hoffnung. Aber wichtiger ist: Das Projekt lebt von Solidarität. Und es lebt von der Gewissheit, dass gemeinsames Essen Teilhabe bedeutet – und niemand davon ausgeschlossen sein sollte.