Skylla und Charybdis

 

Liegt Skylla links Charybdis rechts bereit

was kann dem armen Erdenbürger glücken

der falsche Weg ist Meilen breit

der rechte schmäler als ein Messerrücken.

 

Ludwig Fulda

 

Der größte Freimaurertempel Hamburgs ist bis auf den letzten Platz besetzt. Die Einladung des stellvertretenden Stuhlmeisters der neuen Loge „Magic carpet“ durch die gemischte Loge Skylla und Charybdis  hat die beabsichtigte Signalwirkung nicht verfehlt. Manley Palmer Hall hält seine Bauriss-Zeichnung in der freimaurerischen Universalsprache Esperanto. Da aber vorhersehbar ist, dass nicht alle anwesenden Schwestern und Brüder diese noch beherrschen, läuft an der Decke über dem Altar eine sprachsynchrone Leuchtschrift in deutscher Sprache.

„Als Hieronymus Bosch um 1480 in seinen Gemälden den gesamten Surrealismus um fast ein halbes Jahrtausend vorwegnahm, musste er sich in Metaphern flüchten, um nicht auf irgendeinem Scheiterhaufen zu landen. Der Klerus stellte damals wie heute eine Bedrohung für Freigeister und Visionäre dar.“ Hall fuchtelt bei dieser Aussage mit der Faust in der Luft herum und man merkt ihm Wut und Erregung bereits im ersten Satz an. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ist ihm schon mal sicher.

 

„Es gibt waghalsige Interpretationen seiner Metaphorik. Teilweise mögen sie uns absurd erscheinen, aber wie besser könnte man Wollust ausdrücken, als durch eine Kröte, die auf einem Geschlechtsteil hockt? Und welche Rückschlüsse drängen sich dann auf, wenn weitere Kröten aus Mündern entschlüpfen oder in Ohren kriechen? Richtig, dann werden eben Verdorbenheit und Obzönitäten in Gespräche eingeflochten. Einen Dudelsack nannte man nicht ohne Grund „Sackpfeife“ und der Krug mit dem Stab, das Fass mit dem Spund sind eine hervorragende Projektion für jeden Freudianer. Gott gehörten die Tiere des Tages und dem Satan die Tiere der Nacht, so grobschematisch war damals die Metaphorik, die man den Analphabeten anzubieten hatte. Der Klerus war wie avancierter. Die bleigefassten bunten Bilder in den Kirchenfenstern musste von den Menschen des fünfzehnten Jahrhunderts wie eine Beamer-Show aufgefasst werden. Paradiesische Verklärungen, Auferstehungs-Szenarien als Powerpoint für Arme und Bettler.

 

Keines der Szenarien von Hieronymus Bosch landete jemals auf einem dieser gigantischen Leucht-Panoramen. Man konkurrierte, stand deutlich genug in einem spannungsgeladenen Widerspruch. Grund genug also, sich indifferent zu verklausulieren. Ein hochanspruchsvolles surreales Versteckspiel mit Leinwand und Farbe.“

Ungewöhnlich für einen Freimaurertempel: An einer der Wände erscheinen jetzt Bildprojektionen, die eine Schwester der Loge Skylla und Charybdis auf ein Kopfnicken Halls mit weiteren Bildern bediente. Die „Versuchung des heiligen Antonius“ erschien als erstes, danach der „Garten der Lüste“.

„Bitte beachtet den Trichter, er kann empfangen oder senden, je nach Blickrichtung. Wir werden darauf zurückkommen. Aber seid achtsam. Das gleiche Symbol kann in einem veränderten Kontext seine Bedeutung auch ändern. Der keusche Schwan kann in der Nähe der Jungfrau Maria durchaus noch Keuschheit, Treue oder Reinheit bedeuten, er erhält aber auf der Fahne eines Bordells eine völlig andere Sinnhaftigkeit. „

 

An der Tempelwand erscheint jetzt zum Vergleich die „Versuchung des heiligen Antonius“ von Salvador Dali.

„Auch in seinen Bildern wirkt sich der Einfluss der katholischen Kirche aus. Daher darf es uns nicht wundern, wenn dieser sich ostentativ vom Einfluss des flämischen Künstlers Bosch auf den modernen Surrealismus distanziert und selbst vor drastischen und hämischen Herabsetzungen nicht zurückschreckt. Für Dali liegt die Hauptursache der von Bosch dargestellten Bestiarien und Monster in den kolportierten schrecklichen Verdauungsstörungen des Mittelalters, unter denen dieser seiner Meinung nach wie überliefert litt. An dieser gigantischen Diarrhoe sei er, der geniale Salvador Dali, nicht interessiert. Seine eigenen Monster würden lediglich gelegentlich durch das Übermaß an mediterranem Licht geboren.

Wer sensibel genug ist, dürfte auch hier ein gehöriges Quantum an Hoffahrt und vorauseilendem Gehorsam spüren.“ 

Dann kommt Hall zu seinem eigentlichen Thema.

„Was die Künstler in ihren gemalten Dokumentationen, so möchte ich sie gern bezeichnen, tatsächlich bewogen hat, können wir aber nur authentisch erfahren, wenn wir sie selbst fragen.“

Er lässt eine rhetorische Kunstpause lang die Stille im großen Saal wirken. Dann fährt er geschickt fort: „Bevor wir aber zu unseren Zeitreisen kommen, lasst mich bitte noch erwähnen, dass selbst das Nordbrabantische Museum in s-Hertogenbosch in seinem „Bosch Research and Conversation Project BRCP“ eine habituelle Verwendung von Halluzinogenen in den Ateliers diverser Künstler zu dieser Zeit für möglich bis wahrscheinlich erwähnt.

Selbst in den Klöstern des Mittelalters war die halluzinogene Wirkung von Nachtschattengewächsen, Pilzen und Kakteen jahrhunderte vor der synthetischen Herstellung überaus bekannt. Die bewusstseinserweiternde Verwendung in Orakeln und eleusischen Ritualen würde ja von niemand anderen, als ebendiesen Mönchen in ihren Skriptorien überliefert und vermittelt.

Man war weit entfernt davon, etwas zu maßregeln oder für anrüchig zu halten, was den Weg zwischen Buchdeckel gefunden hatte.

Man kannte durchaus auch bereits andere Rauschmittel, wie Opium, wusste aber bereits zu differenzieren und konzentrierte sich auf Halluzinogene, die eben nicht als suchterzeugend  eingestuft wurden. Aus dieser Zeit stammt übrigens der Begriff „Entheogene“, was soviel bedeutet wie „Mit Gott bewirken“. Es gab also keinerlei Gründe, weshalb Bosch Skrupel gehabt haben sollte, sich dieser fast schon gesellschaftsfähigen Mittel zu bedienen, zumal sie auch in der damaligen Heilauffassung eine nicht unbedeutende Rolle spielten.“

Auf der Projektionsfläche an der Tempelwand erscheint jetzt ein Gemälde von Abdul Mati Klarwein.

„Wir kennen den Einfluss von Mutterkornsubstanzen auf die Neurotransmitter im menschlichen Gehirn. Die Veränderungen an den Synapsen, den Knotenpunkten auf unseren Informationswegen zum kognitiven Verarbeiten, können durchaus dazu führen, dass wir Musik sehen und Bilder hören können. Wir wissen, dass wir hierfür Rezeptoren besitzen, haben aber keine Ahnung, weshalb das menschliche Gehirn diese für uns bereithält. Hormone und hirneigene Botenstoffe begünstigen rätselhafterweise diesen erweiterten Informationsfluss, ohne dass uns ein rationaler Nutzen hierfür bekannt wäre.

Genau mit dieser Frage sind wir in das Thema eingestiegen, als wir unser Loge „Magic Carpet“ gründeten. Ihr kennt unseren Stuhlmeister Bruder Timothy Leary. Seine Versuche, gemeinsam mit seinen Freunden Aldous Huxley und Allen Ginsberg eine ähnliche Loge in den vereinigten Staaten zu gründen, waren daran gescheitert, dass beide der Freimaurerei nicht so gewogen waren, wie Bruder Timothy. Er sah von Anfang an in der Hermetik einer Loge, in der brüderlichen und schwesterlichen Harmonie, in Verschwiegenheit und Vertrauen das beste vorstellbare Umfeld für seine Vorstellungen.

 

Dieser Erkenntnisweg wurde in den siebziger Jahren weltweit durch eine restriktive Gesetzgebung öffentlich und legal unmöglich gemacht. Damit verschwanden auch die erwähnten Untersuchungen und Bildanalysen in den Schmuddelbereichen und das Damoklesschwert der katholischen Kirche konnte eingesteckt werden. Ihre Rolle hatte nun eine von wenig Fachkenntnis getrübte Gesetzgebung eingenommen. Selbst der tschechische Forscher und Psychiater Stanislav Grof musste seine Untersuchungen einstellen. Dabei hatte er harmloserweise primär nachweisen wollen, dass unser Gehirn selbst in der Lage ist, unter bestimmten Voraussetzungen körpereigene Substanzen zu erzeugen, die halluzinogene Effekte erzielen können. Tanz und Ekstase, wie sie in Voodoo-Kulten praktiziert werden, führten zu diesen Erkenntnissen. Basierend auf seinen Erkenntnissen, vermutet man heute, dass die vielfach beschriebenen optischen Erscheinungen bei Nahtod-Erfahrungen auf eine Ausschüttung solcher körpereigenen Drogen zurückzuführen sind. Seit dem Korea-Krieg wird die amerikanische Arme von Psychiatern und Medizinern begleitet, deren einzige Aufgabe es ist, kurzfristig reanimierte, sterbende Soldaten nach solchen Schilderungen zu befragen. Nirgendwo sterben mehr Menschen, als in solchen Kriegen, das macht ihr Sterben statistisch in mehrfacher Hinsicht interessant. Über die aktenkundig erfassten LSD-Versuche der Army im Vietnam-Krieg werde ich in unserer eigenen Loge einen Vortrag halten.“

Manley P. Hall ist sich durchaus bewusst, dass er an dieser Stelle keinen dezidierten Fachvortrag über das Phänomen der Zeitreisen halten kann. Er schätzt die Zahl der Anwesenden auf über zweihundert. „Um alles in der Welt jetzt keine offene Fragestunde“ schießt es ihm durch den Kopf.

„Ich habe diese wenigen, aber durchaus wegweisenden Gedanken vorangestellt, damit ihr den Nährboden unserer eigentlichen Versuche verstehen lernt. Es handelt sich also keineswegs um völlig neue Wege und Bemühungen. Wir haben lediglich gelernt, fünfhundert Jahre Vorarbeit in den richtigen Kontext zu stellen. Unsere Bemühungen, Zeitreisen zu entwickeln, basierend auf dem Wunsch, zu diesen Ursprüngen zurückkehren zu können. Jede Überlieferung, ganz gleich in welcher Form, birgt die Gefahr der Interpretation. Wir wollen die absolute Authentizität und die erhalten wir nur durch die Zeitzeugen selbst.

Autosuggestion allein kann uns aber die Kenntnisse der Quantenphysik nicht ersetzen. Und an dieser Stelle setzt unser globales freimaurerisches Netzwerk ein. Unsere Suche nach WissenschaftlerInnen und ForscherInnen auf dem Gebiet der Photonen und der Quantenmechanik war erst nach vielen Jahren des Suchens wirklich erfolgreich. In Neuseeland fanden wir in einer Loge zunächst einen Bruder, der sich der Quantenkryptographie gewidmet hatte. Viele Fachmagazine hatten seine Untersuchungen und Forschungsergebnisse nicht publizieren wollen. Aber wir erhielten Kenntnis von seinen Bemühungen durch eines unserer eigenen Magazine mit dem Titel „Rough ashlar“ und dann durch ihn von einem bestehenden Netzwerk, das sich dem gleichen Thema widmete.

Gepriesen sei die Weltbruderkette !“

Jetzt sollte er vielleicht aufpassen, denn erfahrungsgemäß verliert man die Hälfte der Zuhörer, wenn man zu fachlich wird.

„Lasst mich nur kurz daran erinnern, dass Albert Einstein bereits in seiner allgemeinen Relativitätstheorie die Schwerkraft als eine Krümmung der Raumzeit durch Materie und Energie beschreibt. Demnach könne sich ein extrem starkes Gravitationsfeld, wie man sich vielleicht ein rotierendes schwarzes Loch vorstellen könnte, derartig verbiegen, dass es wie ein Möbiusband auf sich selbst zurückgekrümmt würde. Diese abstrakte Zeitkurve wäre demnach in sich selbst geschlossen. Würde man diese durchlaufen, könnte man also durchaus in die Vergangenheit reisen. Mit der Zukunft, wie wir es aus zahlreichen Science-Fiction-Filmen kennen, würde das aber nicht funktionieren. Wie könnte man etwas durchlaufen, was noch gar nicht geschehen ist? Genau an dieser Stelle trat für uns dann Albert Einstein in den Hintergrund, denn es galt vielmehr, eine Fülle von paradoxen Vorstellungen zu relativieren.

Um es kurz gefasst zu umschreiben: Unserem neuseeländischen Bruder und seinem Formenkreis, der nicht ausschließlich aus Freimauren und Freimaurerinnen besteht, ist es gelungen, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie zu entsprechen und die Kausalkette soweit zu schließen, dass sie wesentliche Paradoxien auflösen kann und mit den bekannten Gesetzen der Quantenmechanik in Einklang steht.

Wie Ihr vielleicht wisst, veranstaltet unsere Loge „Magic Carpet“ seit einigen Monaten Seminare, in denen wir rituelle Gepflogenheiten vermitteln, die es uns ermöglichen, uns in diese Zeitschleifen zu begeben“.

„Und wie kommt Ihr dort wieder hinaus“, der Zwischenruf kommt laut aus einer der hinteren Reihen in der ein Bruder aufgestanden ist.

„Das ist selbstverständlich ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Instruktionen“ entgegnet Hall gelassen. Er hatte mit dieser Frage durchaus gerechnet. Er bemerkt die Zeitschrift mit dem Titel „Humus und Humanität“, die der Rufer dabei in der hocherhobenen Hand hält.

„Beim derzeitigen Stand unseres Wissens und unsere Erkenntnisse sind die Aufenthalte ohnehin noch zeitlich sehr begrenzt, wie sie sich auf Zerfallszeiten und Wirkdauer der erwähnten Halluzinogene beziehen.“

„Wie lange dauert demnach eine Eurer Zeitreisen?“, will eine Schwester aus einer der vorderen Reihen wissen.

„Das ist bislang noch abhängig von der Wirkdauer des verwendeten Halluzinogens, also meist 9 Stunden“.

Um einen stilvollen Schluss zu finden, lässt die Stuhlmeisterin der veranstaltenden Loge alle Teilnehmer aufstehen und in Ordnung treten. Sie ermahnt besonders eindringlich ein letztes Mal daran, dass keines der hier gesprochenen und gehörten Worte den Raum verlassen dürfe. Wer das Thema vertiefen wolle, sei herzlich zur Teilnahme an einem der erwähnten Seminare eingeladen. Auch würde einer Doppelmitgliedschaft in der neuen Loge „Magic Carpet“ ihres Wissens nichts entgegenstehen.

„Soweit kommt das noch“ grummelt der Bruder mit der Zeitschrift vor sich hin, als er als einer der ersten den Tempel verlässt.